Gedichte

Nur Fahrgast auf Erden

von Edgar Forster

Schnellstrecke
Fährt der Zug erst siebenhundert
sieht man’s draußen nur noch wischen
und man ist dann sehr verwundert,
wie sich hell und dunkel mischen.
Auf den Blick auf Schallschutzwände
kann ich liebend gern Verzichten.
Ohne Städte und Gelände
endet auch das Bahnbedichten

Leseprobe:

X-mas-Bahn
Immer an der Bahn lang
Kam St. Claus geritten.
Er hatte wieder Landgang
Auf seinem weißen Schlitten.

Das weiße Reit- und Rentier
Flog über Tal und Hügel,
das Rentier war ein Gentier
ein Pegasus mit Flügel.

Wieder tönten Jingel-bells
Und Engelschorposaunen.
Es war die Zeit der Single-hells
Und familiärer Launen.

Gedichte

Liebe und Miniaturen

von Gültekin Emre

In den Straßen Möwen auf der Suche nach dem Meer
In welcher anderen Stadt sind sie so nah
Schiffe auf großer Fahrt, noch bevor sie das Meer erreichen
Endlos in Berlin die Nacht, die Straßen und die Bilder
Auch wenn das Gedicht abbricht

Leseprobe:

Warum putzt du deine Spiegel nicht
Wir sind immer vorbereitet auf neue Überfälle
Unsere Gefühle, ein unbewachtes Munitionsdepot
Meine Hände liebkosen deine Haare auf dem Photo

Es mehre sich die ineinander verflochtenen Lieben
Warum verstauben die Spiegel
Vögel steigen auf von den Barrikaden
Dennoch können wir jenen Marsch nicht auswendig

Wir werden davongehen, den frischen Winden entgegen
Keine Angst, auch um uns wird man weinen
Ich bin bereit, von neuem zu streiten, von neuem vernichtet zu werden
In meiner Tasche einige neue Photographien.

Gedichte

Studien für ein Portrait van Goghs

von Wolfgang Heyder

Wolfgang Heyder, geboren 1954 in Ratingen/Nordrhein-Westfalen; studierte einige Semester Bildende Kunst an der Kunstakademie Düsseldorf, danach Studium der Germanistik, Philosophie, Der Musik- und Theaterwissenschaft in Düsseldorf und Berlin. Mehrere Auslandsaufenthalte. Mitherausgeber der Düsseldorfer Literaturzeitschrift „Tympan“ (1977-80); Mitherausgeber der Jahrbücher für junge Lyrik „Härter als der Rest“ (Oberbaum-Verlag, Berlin 1984); „Gesang auf mein Messer“ (Oberbaum-Verlag, Berlin 1985) u. v. m.

Gedichte

Ohne Gegenwert

von Kostas Giannakakos

die Felder bestellt
tote Hunde am Rande der Nationalstraße
ein Zug ein Flugzeug
ein gesprengtes Museum
nicht einmal in den Archiven finden Platz
unsere Initiale
für die nachkommenden Generationen
denen zu wünschen ist
solches Schaudern der Fremde
nie zu erleben

Gedichte

Das Senkrechte Meer

von Zafer Senocak

Die Dächer stehen zu tief für Zugvögel
heute bringt man sich nicht auf Dächern um
es ist modern in Büros zu sterben oder in U-Bahn Schächten
Psychogramme werden telegraphisch ausgestellt
auf den Ämtern in den späten Nachmittagsstunden
baumelt ein junger Mann an seiner Krawatte
heute bringt man sich nicht auf Dächern um
die Dächer sind Werbeflächen für Bestattungsinstitute
Verdrossene beginnen dort ihr zweites Leben

Leseprobe:

… ein Teller mit Kirschen am offenen Fenster
ein Rabe im Schatten des Fensters
der das Fliegen verlernt und wacht
oder das Fenster im Schatten des Raben
die Zeit ist ein Grundriß aus Staub
ein züngelnder Kristall
dieses Land ohne Alphabet
den Darm voller Dichter und Verse
die Zunge sehnt sich nach einer Sprache
einer Farbe hinter den Augen
ein Teller …

Gedichte

Übergang

von Zafer Senocak

Ausgewählte Gedichte

Die Gedichte von Zafer Senocak, einem breiten Publikum bekannt durch seine provokanten Essays und Prosawerke, wurden bislang in elf Sprachen übersetzt. „Übergang“ bringt nun eine repräsentative Auswahl aus seinem bisherigen Schaffen. 132 Gedichte aus einem Vierteljahrhundert. Sichtbar wird die Entwicklung von Themen und Stilen zu einem immer lakonischeren Ton, der inzwischen die Lyrik Senocaks prägt. Dichtung auch verstanden als Übersetzung zwischen dem Osmanischen Diwan und den Schreibweisen der europäischen Moderne, zwischen islamisch mystischer Tradition und dem Erbe der Aufklärung. Gedichte, die ein „Zurück zur Poesie“ einfordern, mal kontemplativ, mal irritierend, mit einer Bildersprache die fremd und zugleich vertraut erscheint. Eine unverwechselbare Stimme in der gegenwärtigen deutschsprachigen Lyrik, die einlädt auf die „Wortschatzinsel“.

Leseprobe:

Frau die in Wassern lebt
wird wund beim Berühren
jene Schrift die auf dem Wasser treibt
hat sie über Nacht zugedeckt
sie wird im Schlaf geholt
von einer Sprache die sie nicht versteht

bleibt er verborgen der zu ihr spricht
berührt sie nur mit seinem Klang
gibt ihr keinen Namen

seine Geschichte bleibt geheim
nur zu fassen von Körpern
die sind daheim
in einem fernen Land
wo ihr Herz nicht mehr schlägt

Gedichte

Fernwehanstalten

von Zafer Senocak

wir nach Angstschweiß riechenden Männer
beißen in rohe Zwiebeln
laden unseren Schlaf auf zügellose Rösser
mit wachen Augen visieren wir den Tagesanbruch
wie ein Athlet reißt er am Horizont den Vorhang auf
doch er wird jung sterben der Starke
und die langen grünen Stiele frischer Zwiebeln faulen wir nach Angstschweiß riechenden Männer sind dann längst über alle Berge

Gedichte

Auf dem Schiff zum Mars

von Berkan Karpat, Zafer Senocak

waschzettel für den derwisch

wir kreieren einen raum
unser leser
in diesem raum ist ein hörer
ein hörender leser
ein hörraum für stimmen

wir enteignen die literatur
führen selbstgespräche
unlogische derwisch-monologe
wandern in stimmenkreiseln

wörter sind aktionen von körpern
schlaf-aktionen
atemreste

reste in ton
und material
führen gespräche

jedes wort einzelgänger
sein klang gegenüber

Leseprobe

… zum spielen
der rote apfel zwischen den sternen
zum spielen zwischen den sternen
ein riesiger roter apfel
ein warmes brot
wenigstens für einen tag
für ein schiff voller kinder
in salz
salz gewordene kinder
wie man sonne bricht
und in salz taucht
zwischen den sternen
ein schiff voller kinder
in salz
salz gewordene kinder
auf dem schiff zum mars …